Europawahl

  • Search11.04.2024

Bleibt Europa ein Klimavorreiter?

Die Bedeutung der Europawahl für die Klimapolitik der Mitgliedsstaaten lässt sich kaum überschätzen. Bei der Abstimmung am 9. Juni geht es aber noch um mehr: um die Verteidigung der Demokratie.

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    Die Europawahl in Juni entscheidet nicht zuletzt darüber, wie die europäische Klimapolitik in den kommenden Jahren aussieht.

    Europa-Aktivistin: Die Zusammensetzung des EU-Parlaments ist für die deutsche Politik ähnlich wichtig wie die des Bundestags.

     

    Von Jasmin Lörchner

    Selten stand bei einer Europawahl so viel auf dem Spiel wie jetzt. Die Abstimmung im Juni entscheidet nicht nur über zentrale Themenfelder wie die Klimapolitik. Sondern auch darüber, wie viel Macht die Europäer rechtspopulistischen und antidemokratischen Kräften einräumen. Es ist eine Schicksalswahl.

    Wieder einmal.

    Denn schon 2019 fürchteten Klimaschützer, dass ein Erstarken rechtsnationaler Kräfte die EU als Taktgeber des europäischen, wenn nicht gar des weltweiten Klimaschutzes lahmlegen können. Auch deshalb kletterte die Wahlbeteiligung in der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten; in Deutschland von 48,1 Prozent 2014 auf 61,4 Prozent. Umfragen zeigten, dass vor allem die Sorge um Klima- und Umweltschutz die Menschen mobilisiert hatte.

    Das starke Ergebnis der Grünen hatte unmittelbaren Einfluss auf die Agenda der überraschend zur Spitzenkandidatin für die EU-Kommission gekürten Ursula von der Leyen. „Im Nachgang hat sich Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin genötigt gefühlt, mit dem European Green Deal ein sehr ambitioniertes Klimaprogramm vorzulegen“, sagt Felix Schenuit im Gespräch mit EnergieWinde. Er forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Klimapolitik.

    In den Ergebnissen von 2019 sieht Schenuit den Beweis für die immense Bedeutung von Europawahlen, insbesondere für das Klima. Denn die deutsche und europäische Klimapolitik seien eng verwoben. „Oft wird auf europäischer Ebene der regulatorische Rahmen gesetzt, und im zweiten Schritt landen die Themen dann auf nationaler Ebene.“

    Brüssel schraubt die Klimaziele hoch – die Nationalstaaten müssen sie umsetzen

    Gerade für Probleme wie die Erderhitzung erscheint der Verbund der 27 EU-Staaten als geeigneter Rahmen. Schließlich lässt sich die Klimakrise nicht von Landesgrenzen aufhalten. Sie müssten vielmehr gemeinsam gelöst werden, sagt Rebekka Müller, Kandidatin der europaweit kandidierende Partei Volt. „Wir haben mit der EU einen wahnsinnig großen Hebel, um Klimapolitik über nationale Grenzen hinweg zu machen“, so Müller gegenüber EnergieWinde.

    Rebekka Müller kandidiert auf der Liste von Volt für das Europaparlament. Im Interview erklärt sie, warum die EU von überragender Bedeutung für die Klimapolitik ist.

    „Wir haben mit der EU einen wahnsinnig großen Hebel, um Klimapolitik über nationale Grenzen hinweg zu machen“, sagt Rebekka Müller. Sie kandidiert für die Partei Volt für das Europaparlament.

    Dass die EU ein Taktgeber im Klimaschutz sein kann, hat sie in der aktuellen Legislaturperiode bewiesen. Mit dem European Green Deal und dem dazugehörigen „Fit for 55“-Paket hat sie wichtige Weichen für die Klimapolitik gestellt. Sie hat das Ziel vorgegeben, die Emissionen bis 2030 gegenüber 1990 um 55 Prozent zu senken, um 2050 klimaneutral zu werden.

    In den kommenden fünf Jahren geht es nun darum, das Emissionsziel für 2040 zu vereinbaren und den Green Deal weiter auszugestalten.

    In der Energiepolitik haben die Staaten das letzte Wort. Sie nutzen ihre Macht

    Eine der wichtigsten Stellschrauben für die Emissionsziele ist die Energiepolitik. Hier hat die EU allerdings nicht die Möglichkeit, verbindliche Regelungen aufzustellen. „Die Energiekompetenz ist über Artikel 194 im Lissabonner Vertrag geregelt“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Michèle Knodt im Interview mit EnergieWinde. „Er legt fest, dass die EU zwar auf europäischer Ebene Beschlüsse vornehmen kann, etwa Energieeffizienz oder die Umstellung auf erneuerbare Energien. Aber de facto hat sie über die Energiepolitik und den Energiemix der Nationalstaaten keine Macht. Die Umsetzung ist freiwillig und liegt bei den Mitgliedsstaaten“, sagt Knodt, die an der TU Darmstadt arbeitet.

    Schon jetzt zeichne sich bei den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zu den bisherigen Bemühungen der einzelnen Staaten im Hinblick auf die Reduktionsziele ab, dass die aktuellen Klimaziele nicht erreicht werden.

    Sanktionen, wenn die Ziele verfehlt werden? Noch ist das Zukunftsmusik

    Um hier Fortschritte zu machen, kann die nächste Legislaturperiode entscheidend sein. Denn dann wird über die Neuauflage der Governance Regulation verhandelt, mit der Regeln für die Planung, Realisierung und Überwachung der Energiepolitik im Rahmen der Klimaziele festgelegt werden sollen. „Wenn es im EU-Parlament und dem Rat der Mitgliedsstaaten dafür die Mehrheiten gibt, könnte man mit der Governance Regulation mehr Verbindlichkeit bei der Energiepolitik erreichen“, sagt Politikwissenschaftlerin Knodt. „Denkbar sind die Einführung von Sanktionen beim Verfehlen der Reduktionsziele bei der Energieeffizienz sowie bei Ausbauzielen der erneuerbaren Energien und eine sektorenübergreifende Konditionalität: Also wenn ein Staat seine Ziele verfehlt oder angedachte Maßnahmen nicht umsetzt, werden finanzielle Mittel etwa aus den Strukturfonds gestrichen“, sagt Knodt.

    Blick in den Plenarsaal des ersten direkt gewählten europäischen Parlaments in Straßburg. Die Wahl 2024 stellt auch die Weichen in der Klimapolitik neu.

    Blick in den Plenarsaal des ersten direkt gewählten europäischen Parlaments in Straßburg 1979: Von Klimapolitik war damals noch nicht die Rede.

    Volt-Kandidatin Rebekka Müller hofft, dass die EU in der kommenden Legislaturperiode den gemeinsamen Strommarkt in den Blick nimmt. „Der Umbau des Netzes auf die erneuerbaren Energien funktioniert mittel- bis langfristig nur europäisch. Und wenn Solarstrom in Südeuropa günstig ist und Windenergie in Nordeuropa, ist es doch viel sinnvoller, den Ausbau der Erneuerbaren europäisch anzugehen.“

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    Je mehr extrem konservative und rechte Kräfte an die Macht kommen, desto unwahrscheinlicher wird es, die Klimaziele zu erreichen

    Michèle Knodt, Politikwissenschaftlerin

    Realistisch erscheinen solche Reformen und Vorhaben aber nur, wenn die äußerste Rechte im Parlament nicht zu groß wird. „Je mehr extrem konservative und rechte Kräfte an die Macht kommen, desto stärker werden sie national auf die Bremse treten und desto unwahrscheinlicher wird es, die Klimaziele zu erreichen“, so Knodt. Im schlimmsten Fall könnte ein neues EU-Parlament die bisherigen Klimaziele stark verwässern oder für nichtig erklären und Klimapolitik allein den Nationalstaaten überlassen.

    Politikexperte Schenuit verweist bei den Zuständigkeiten des EU-Parlaments zudem auf den anstehenden EU-Haushalt, mit dem die Gelder für die Vorhaben der EU verteilt werden – inklusive der Klimapolitik. „Einer der nächsten Schwerpunkte wird sicherlich eine Reform der Landwirtschaft und der Industriepolitik. Denn wenn man sich die aktuellen Emissionsprognosen anschaut, ist klar, dass die Emissionsziele ohne Maßnahmen in diesen Bereichen nicht zu schaffen sind“, sagt der Wissenschaftler.

    Die EU ist schrecklich kompliziert. Das räumen selbst Fachleute ein

    Doch so wichtig die EU für die Klimapolitik auch ist, vielen Wählerinnen und Wählern erscheinen die Vorgänge und Machtverhältnisse in Brüssel und Straßburg undurchsichtig. Dass das System kompliziert ist, geben auch Fachleute unumwunden zu. Das Wahlsystem schafft zusätzlich Verwirrung, denn die 27 Mitgliedsstaaten regeln die Europawahl bis auf wenige einheitliche Vorschriften selbst.

    Die Wahl ist in Europa für den Zeitraum vom 6. bis 9. Juni angesetzt; in Deutschland findet sie am Sonntag, den 9. Juni, statt. Wahlberechtigt sind Deutsche ab 16 Jahren und EU-Bürger, die sich zum Zeitpunkt der Wahl in Deutschland aufhalten. Im Parlament ist Deutschland mit 96 der 720 Abgeordneten vertreten. Wählerinnen und Wähler geben ihre Stimme nicht für einzelne Abgeordnete ab, sondern für eine Parteiliste. Jede Partei kann eine Bundesliste oder mehrere Landeslisten erstellen.

    Die Kommission schlägt vor. Die Entscheidung fällen Parlament und Rat

    Das legislative Verfahren ist auf europäischer Ebene über verschiedene Institutionen verteilt: Die EU-Kommission schlägt Gesetze vor, beraten und verändert werden sie im EU-Parlament und beschlossen mit Zustimmung der Nationalregierungen im Europäischen Rat. Mittlerweile werden viele Regulierungen jedoch im informellen Trilog abgestimmt, einer Zusammenkunft von Parlament, Rat und Kommission. So werden langwierige Vermittlungsausschüsse vermieden, in denen manchmal um jedes Wort gekämpft wird.

    Gesetzgebung in der EU

    Gesetzgebungsorgane

    Die Europäische Kommission ist das einzige Organ der EU, das Gesetzentwürfe vorlegen darf. Das Europäische Parlament, der Ministerrat (Fachminister der Mitgliedsstaaten) und der Europäische Rat (Staats- und Regierungschefs der EU) können die Kommission allerdings auffordern, tätig zu werden. Das Recht dazu haben auch die Wähler: über ein Volksbegehren mit mindestens einer Million Stimmen.

    Gesetzgebungsverfahren

    Gesetzesvorschläge der Kommission gehen in bis zu drei Lesungen an das Europäische Parlament. Es kann die Vorschläge annehmen oder verändern, wobei jeweils auch der Europäische Rat zustimmen muss. Auch eine Ablehnung ist möglich. Der Rat besitzt zudem das Recht, Änderungen des Parlaments abzulehnen und einen eigenen Standpunkt zu formulieren. Kommt es in den ersten beiden Lesungen zu keiner Einigung, tritt in dritter Lesung ein Vermittlungsausschuss zusammen. Wird dessen Ergebnis binnen sechs Wochen gebilligt, ist das Gesetz angenommen. Andernfalls endet das Verfahren.

    Gesetze

    Die EU kennt im Wesentlichen drei Formen von Rechtsakten: Verordnungen treten unverändert in der gesamten EU in Kraft. Richtlinien dagegen geben nur Endergebnisse vor; wie diese Ergebnisse erreicht werden, bleibt den Mitgliedsstaaten und ihrer nationalen Gesetzgebung überlassen. Beschlüsse gelten verbindlich, betreffen allerdings nur spezifische Fälle, an denen bestimmte Behörden oder Einzelpersonen beteiligt sind.

    Um für komplexe Vorhaben wie den Green Deal bereits in der Konzeptionsphase Mehrheiten zu formen, braucht es Geschick. „Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Vizepräsident Frans Timmermans waren sehr gut darin, Koalitionen zu formen und die Leute in ihren Parteien hinter sich zu bringen. Das lag sicherlich auch daran, dass beide ihr politisches Vermächtnis eng an den Green Deal geknüpft haben und deshalb eine große Motivation hatten, ihn zum Erfolg zu bringen“, sagt Schenuit.

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    Herausgekommen sind nicht nur Absichtserklärungen, sondern rechtlich bindende Entscheidungen. Das ist auch ein Erfolg der Kommission

    Felix Schenuit, Stiftung Wissenschaft und Politik, über den Green Deal

    Der Politikwissenschaftler verweist auf das „Fit for 55“-Paket als Beispiel, wie gute europäische Zusammenarbeit funktionieren kann: Das Paket dient der Umsetzung des Green Deals. Es bündelt unter anderem Richtlinien zum Emissionshandel, zur Energieeffizienz, zu erneuerbaren Energien und zum CO2-Ausstoß von Pkw. „Da wurde die ganze Architektur der Klimapolitik angepasst. Das war eine hohe Belastung für alle Akteure, also auch für die nationalen Regierungen, wirklich ein Kraftakt. Herausgekommen sind nicht nur Absichtserklärungen, sondern rechtlich bindende Entscheidungen. Das ist auch ein Erfolg der Kommission“, so Schenuit.

    Ursula von der Leyen spricht im Europaparlament in Straßburg: Das starke Abschneiden der Grünen 2019 nötigte der EU-Kommissionspräsidentin einen sehr klimafreundlichen Kurs ab.

    Ursula von der Leyen (hier im Europaparlament in Straßburg) legte nach dem starken Abschneiden der Grünen 2019 eine ambitionierte Klimaagenda vor.

    Gesetzesvorschläge wandern von der Kommission weiter zum EU-Parlament. „Bis jetzt gab es dort in den meisten Fällen Mehrheiten für eine ambitioniertere Klimapolitik, als die Kommission sie vorgeschlagen hat“, sagt Schenuit. So engagierte sich das Parlament für ein strikteres Klimaziel. Und auch wenn es mit dem Vorschlag von 60 Prozent Emissionsminderung scheiterte, hatte es Anteil daran, dass ein ambitionierteres Ziel von 55 Prozent beschlossen wurde.

    Einzelstaaten können den Betrieb ausbremsen. Sie haben teils Vetorechte

    In der Vergangenheit zeigte sich wiederholt, dass einzelne Mitgliedsstaaten Beschlüsse blockieren konnten, die eine einstimmige Annahme erfordern. Je enger der Rest der EU zusammensteht, desto größer ist allerdings die Chance, solche Vetos auszuräumen. Doch die derzeit stärker werdenden rechten Kräfte in Europa könnten diesen wichtigen Zusammenhalt schwächen. „Je zerstrittener das EU-Parlament ist, desto weniger Einfluss hat es“, sagt Schenuit.

    Schon bei den Wahlen 2014 und 2019 zeigten sich Aufwärtstrends für Rechtspopulisten. 2019 bekamen sie in Frankreich, Italien, Ungarn und Polen die meisten Stimmen, auch in Schweden wurden die Rechtsnationalen zweitstärkste Kraft. In Deutschland legte die AfD um 3,9 Prozentpunkte auf elf Prozent zu. Die Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg warnt nun, die anstehende Europawahl könnte ein „politisches Erdbeben auslösen“.

    Die AfD wird nicht trotz ihres Störpotenzials gewählt. Sondern gerade deswegen

    Für die AfD stimmten viele gerade deshalb, weil sie im EU-Parlament als Bremsklotz auftritt – mit womöglich schwerwiegenden Folgen. „Rechte Kräfte und insbesondere die AfD haben absolut kein Interesse daran, die Klimaziele einzuhalten“, sagt Volt-Kandidatin Müller. Sie fürchtet um Errungenschaften wie die Emissionsziele, die CO2-Bepreisung und die Energiewende.

    In ihrem Wahlprogramm beschreibt die AfD de facto den „Dexit“, einen Austritt Deutschlands aus der EU. „Wenn das passiert, würde das Milliarden von Euro kosten und wir alle würden es auf unseren Konten spüren“, sagt Knodt. Ein veränderter Binnenmarkt, die Rückkehr von Grenzkontrollen, negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Die Folgen für die deutsche Wirtschaft wären enorm. Die gewaltigen Probleme Großbritanniens durch den Brexit sind ein mahnendes Beispiel dafür.

    Ein Grund mehr, sagt Knodt, weshalb Wählerinnen und Wähler die Europawahl ernst nehmen sollten. „Wenn wir nicht wählen gehen, riskieren wir alles, was wir in Europa bisher erreicht haben – inklusive Frieden.“

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